Sie hat mich nur eines kurzen empört-berunzelten Blickes gewürdigt, die alte Dame. Gut einen Meter Platz hatte sie, um an mir vorüberzugehen. Der Flur in der Straßenbahn ist wahrlich breit genug.

OK – ich gestehe. Mein Fuß ragte ein klein wenig hervor. Doch sie hätte es schaffen können – berührungslos. Wie dutzende andere auch. Wenn sie bei ihrer Sitzplatz-Such-Panik noch einen Sinn für ihr Gehen gehabt hätte.

Sie hätte auch fallen können. Ich lege keinen Wert darauf, dass sich mir die Frauen zu Füßen werfen. Schon gar nicht welche im Rentenalter. Das erzeugt immer so einen akuten Handlungsbedarf.

Sie hätte mir auf den Schuh treten können. Mehr als diesen Blick der Entrüstung hätte sie mir dafür gewiss nicht geschenkt.

Nun hat sie mir einen ordentlichen Tritt verpasst – bei ihrem missglückten Versuch sich platt auf den Boden zu legen. Und prompt die Empörungsoption gezogen. Eine lebenserfahrene Motze. Wer sich empört ist im Recht. Das missmut-mürrische Gesicht hat sie aber schon mit in die Straßenbahn gebracht. Das hab ich genau gesehen. Nicht einmal über den ergatterten Sitzplatz vermag sie sich zu freuen. Dabei hätte sie Grund genug – es war der letzte.

Menschen, die ihre Verbitterung gassi führen, sind kein erhebender Anblick. Ich schaue sie ja auch nicht böse an, nur weil ich ihre Rente und ihr Restleben mit-finanzieren muss. Zudem darf ich voraussetzen, dass ein Mensch in ihrem Alter schon weiß, wie wenig Freude der Tag bringt, wenn man der Welt ein so unschönes Gesicht zieht. Damit wird sie heute gewiss keine Freundlichkeit ernten. Und es kann auch unmöglich in ihrer Absicht liegen, die Faltendichte im Gesicht höher zu halten als die am Hintern.

Ich biete meinen Sitzplatz schon mal älteren Menschen an. Es ist mir keine Mühe ein paar Stationen zu stehen. Mein Höflichkeitsreflex funktioniert jedoch nur bei hoffnungsvoll Suchenden, bei hilflos Wirkenden oder charmant Lächelnden. Man kann sich nämlich auch einen Sitzplatz erlächeln. Dazu ein Blick in die Augen – das klappt. Menschen die wortlos die Welt bemurren, die müssen mir aber stehend beim Sitzen zusehen.

Wenn sie zu mir herüber schaut, dann werde ich die Dame mit den krampfhaft geschürzten Lippen schockieren. Ich werde ihre zur Schau getragene stirnberunzelte Unmut mit einem freundlichen Lächeln quittieren.

 

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