Frau Knüll stellt genau vor Johanns Nase ein freundliches „Guten Morgen“ in den Raum. Was Johann erwidert ist ungehörig. Anstatt diesem Morgengruß mit der gebotenen Höflichkeit zu begegnen, wertet er ihn als Angriff. Um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass er sich ein solches „Guten Morgen“ nicht einfach gefallen lässt, retourniert er ihren unschuldig wohlwollenden Gruß mit einer angriffslustig schnippischen Gegenfrage: „Wie meinen Sie das?“

Für einen Moment hält die Kollegin brüskiert inne. Verdutzt und mit großen Fragezeichen in den Pupillen. Dann verschwindet sie kopfschüttelnd in ihrem Büro.

Ich erkenne sofort was mit Johann los ist. Johann ist ein Alleinmensch. Junggeselle, beziehungslos, elternlos. Er fristet, trotz hoher Menschendichte in seinem Umfeld ein soziales Eremitendasein. Und nun hat es ihn voll erwischt.
Er hat wohl irgendwann in den letzten Monaten die Bedrohlichkeit der „Guten Absicht“ erkannt. Begünstigt durch sein Eigenbrötlertum, hat sich seine Erkenntnis in kurzer Zeit zu einer handfesten Phobie ausgewachsen. Selbst das gutabsichtige „Guten Morgen“ seiner Kollegin scheint ihm bedrohlich.
Dass Johann die Bedrohlichkeit guter Absichten erkannt hat, das spricht im Grunde für ihn. Zeigt es doch auf, dass er zu beobachten vermag und noch nicht unter sozialer Erblindung leidet.
Die ganze Menschheit leidet unter guten Absichten. Mit guter Absicht wird das Kind gezüchtigt, dem Fragenden die Wahrheit verschwiegen und die Oma enterbt. Nahezu hinter jeder schlimmen Tat steckt nichts geringeres, als eine gute Absicht. Mit guten Absichten werden Menschen entlassen, Sozialhilfe gekürzt, Bomben gebaut, das Internet zensiert und Kriege erklärt. Gepaart mit Macht erreicht die gute Absicht ihren unglückseligen Höhepunkt. Sobald dir jemand, ausgestattet mit Macht und guten Absichten, gegenübersteht, ist Schluss mit lustig. Wenn der bemachtete Gutabsichtler weiß was gut für dich ist, bedeutet das wohlwollende Zwangsbelückung und das Ende deiner Freiheit.

Johann hat das erkannt. Aber dass er den gutabsichtigen Guten-Morgen-Gruß nicht mehr von normalbedrohlichen Gutabsichten zu unterscheiden vermag, das ist ganz schlecht. Johann braucht Hilfe. Hilfe und Menschen braucht er, dringend.
Es kostet mich einige Überredungskünste, Johann von einem gemeinsamen Feierabendbierchen zu überzeugen. Vermutet er doch eine Absicht hinter meinem Anliegen, eine gute. Ich bin weit davon entfernt ein Samariter zu sein, aber hier besteht akuter Handlungsbedarf.
Im Grunde ist Johann ein Fall für den Psychiater. Doch für die Konfrontation mit einem solchen, scheint mir sein Krankheitszustand schon zu weit fortgeschritten. So ein Seelendoktor kann seine guten Absichten ja kaum verbergen. Und somit käme das dem Versuch gleich, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Ich habe einen weit besseren Plan. Einen mit Erfolgsgarantie.

Nach unserem dritten Bier mache ich mich mit Johann scheinheilig auf den Heimweg. Als wir an Rudis altem Fachwerkhaus vorbeikommen, halte ich kurz inne. Ich werfe einen interessierten Blick über den Zaun. Hinten im Hof flackert ein schwaches Licht. Im Halbdunkel sind zwei Gestalten zu erkennen. Ich raune Johann ein kurzes unverhandelbares „komm mit“ zu. Dann öffne ich das Tor und steuere, ohne auf Johanns Reaktion zu achten, dem Lichtlein entgegen. Johann folgt widerstandslos. Es ist geschafft. Der Rest wird ein Kinderspiel.

Rudi ist Harley-Fahrer, Philosoph, Biertrinker und Heiler – und ein Bär von Mann, ein Seebär. Als Vollwaise ist er in sein Leben gestartet. Schon jung zur See gefahren. Zwölf Jahre lang hat er mit einem uralten Fischkutter, den er sich an der togolesischen Küste gekauft hatte, Touristenausflüge gemacht. Entlang der Côte d´Azur. Wie es ihn in unser Kaff verschlagen hat, das weiß keiner. Aber hier in Rudis Hof ist seitdem der Mittelpunkt der Welt. Bei Rudi wohnt die Zeit. Und weil die Zeit hier eine Heimstatt gefunden hat, sind nach und nach auch ihre Freunde und weitläufigen Verwandten eingezogen: Die Ruhe, die Gelassenheit, die Geduld, die Aufmerksamkeit, das Verständnis und die Nachsicht.

„Servus Rudi. Servus Uwe. Das ist Johann.“ Begrüßungen unter uns sind selten ausschweifend. Ich setze mich auf die alte Holzbank. Johann nimmt schweigend neben mir Platz.
Rudi ist wortkarg. Die wenigen Sätze, die von ihm zu hören sind, erscheinen dem Gegenüber wie leise sonore Paukenschläge. Es sind aber nicht allein seine Worte, die Menschen in seinen Bann ziehen. Es ist seine bloße Anwesenheit.
Uwe und Rudi fachsimpeln noch ein wenig über die Reparatur an Rudis Harley Knucklehead. Johann hat mit Motorrädern rein gar nichts am Hut. Trotzdem lauscht er gespannt. Er ist gefesselt. Rudi hätte auch etwas über Schnittlauch erzählen können, das hätte wohl keinen großen Unterschied gemacht.
Ein Bier und eine halbe Stunde später erhebt sich Rudi. Er hat schon bei unserem Kommen begriffen, weshalb ich heute einen Gast mitbringe. „Ich zeig sie dir mal“, brummt er zu Johann – er meint die Harley. Dann verschwinden sie in der Scheune.

Es ist wie ein Naturschauspiel. Zu sehen, wie Rudi Menschen behandelt und wie diese reagieren, wenn sie ihn zum ersten Mal erleben. Es ist, als kenne er eine magische Reset-Taste, mit der man verwirrte Humanoiden erdet.
Manchmal sind Rudis Behandlungsmethoden auch zum Brüllen. Wenn er beispielsweise mit einem einzigen Satz seinem Sohn und dessen Schulfreund die Langeweile austreibt. Die beiden Zehnjährigen saßen eines Nachmittags auf der Treppe zum Hof. Rudis Junior nörgelte vor sich hin: „Mir ist stinklangweilig“. Sein Kumpel steuerte ein selbstmitleidiges „mir auch“ bei. Ohne aufzublicken brummte Rudi einen Heilersatz: „Dann zieht euch halt nackig aus und spielt mit den Klamotten.“ Von jeglichem Bedürfnis ihre Langeweile zu bekunden befreit räumten sie schleunigst das Feld. Ob sie ihre Langeweile verloren oder mitgenommen haben, das ist mir entgangen.

Johanns Genesung wird nicht lange dauern. In den nächsten Wochen werde ich ihn oft hier antreffen. Rudis Haus ist in dieser Hinsicht nämlich menschenmagnetisch. Johann wird wie von alleine begreifen, dass das Leben so schön ist, wie man es denkt und lebt. Dass man sich vor den guten Absichten der anderen nicht zu fürchten braucht. Man muss nur genügend eigene haben, um sich zur Wehr zu setzen. Er wird begreifen, dass Leben aus Menschen und Zeit gemacht wird. Und nicht zuletzt, dass die Welt in Wahrheit drei Pole hat. Den Nordpol – da findet man Eisbären. Den Südpol – da findet man Pinguine. Und Rudis altes Haus in der Nepomukstraße 3 – da findet man Menschen und Zeit.

 

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